Im Herbst 2017 ist in Deutschland die „Ehe für alle“ in Kraft getreten, Lesben und Schwule können wie Hetero-Paare heiraten. Es gibt lesbische und schwule Politiker, geoutete Führungskräfte in der Wirtschaft und in jeder größeren Stadt im Sommer einen CSD / Pride Umzug ohne größere Aufregung. Die LGBT* Community wird oft als buntes Partyvolk mit überdurchschnittlicher Bildung und Einkommen wahrgenommen. Ist damit nicht eigentlich alles gut? Müssen wir immer noch über die LGBT* Rechte sprechen?
Ja, müssen wir. Denn erstens sieht es in den überwiegenden Teilen der Welt ganz anders aus. Soziale Ächtung, Gefängnis und Tod bedrohen in vielen Teilen der Welt die LGBT* Community und dabei sprechen wir nicht mehr nur von Teilen Afrikas oder dem Nahen Osten. Man muss nur nach Osteuropa schauen, wo friedliche Pride-Märsche und ein Leben ohne Angst vor Gewalt nicht selbstverständlich sind und Regierungen nichts dafür tun, dass die Lage sich verbessert. Zweitens muss man sich klarmachen, dass die heutige weitgehende rechtliche Gleichstellung auch in Deutschland noch nicht lange besteht und es in der Geschichte immer wieder schon einmal liberale Epochen gab, die durch neue Strömungen endeten. Es beginnt mit der Antike, in der die körperliche Liebe zwischen Männern etwa in Rom und Athen gesellschaftlich akzeptiert und Teil der Kultur war. Mit dem Aufstieg des Christentums änderte sich das dramatisch. Im Mittelalter waren Verfolgung und Todesstrafe weit verbreitet. Erst nach der Französischen Revolution gab es dann wieder eine liberalere Epoche, in der es z.B. in Bayern Straffreiheit für homosexuelle Handlungen gab. Dann wurde aber 1872 im ganzen Deutschen Reich der berühmt-berüchtigte § 175 Strafgesetzbuch eingeführt, der so viel Leid über Abertausende von Menschen gebracht hat. Die Nationalsozialisten verschärften die Verfolgung und ermordeten bekanntlich neben Juden, Kommunisten, Menschen mit Behinderung und anderen unerwünschten Personen auch tausende von von Homosexuellen. Nach dem Ende des Krieges galt § 175 StGB im Wesentlichen bis 1969 weiter, in Teilen sogar bis 1994. Ca. 50.000 Männer wurden in der Bundesrepublik bis 1969 gerichtlich verurteilt. Das gesellschaftliche Klima änderte sich erst Ende der 60er Jahre. Als Wendepunkt können die berühmten Stonewall Riots in der Christopher Street in New York im Juni 1969 angesehen werden, in denen sich die LGBT Community erstmals gegen die Verfolgung gewehrt hat. Auch danach dauerte es aber in Deutschland noch bis in die 2000’er Jahre, bis wir wesentliche Fortschritte im Bereich LGBT* Rechte erzielt haben. Und heute haben wir in Deutschland zwar eine weitgehende Gleichstellung, aber durchaus noch offene Themen, etwa was die Rechte trans- oder intersexuelle Menschen angeht.
“In den Rückblicken auf die Welt vor dem Krieg ist der Blick auf den Umgang mit Schwulen und Lesben einer der Gradmesser, an denen sich die bevorstehende Katastrophe und Entrechtung ablesen lässt.”
Wird es gelingen, in Deutschland wirklich eine vollständige soziale und rechtliche Gleichstellung von LGBT* zu erreichen und dies auch in unserer Verfassung zu verankern? Letzteres wäre wichtig, um die Gleichberechtigung dauerhaft gegen mögliche Angriffe zu schützen. Oder wird eine erstarkende Rechte weiteren Fortschritt verhindern, kippt gar die Stimmung und schlägt das Pendel zurück in eine illiberale Epoche? In der aktuellen Verfilmung des Romans „The Handmaid’s Tale“ von Margaret Atwood aus den 80er Jahren wird das Bild einer Welt nach einem Bürgerkrieg gezeichnet, den eine pseudo-religiöse rechte Bewegung für sich entschieden hat. Fruchtbare Frauen, von denen es nach Umweltkatastrophen nicht mehr viele gibt, sind in dieser Gesellschaft versklavt und müssten den Anführen Kinder gebären. In den Rückblicken auf die Welt vor dem Krieg ist der Blick auf den Umgang mit Schwulen und Lesben einer der Gradmesser, an denen sich die bevorstehende Katastrophe und Entrechtung ablesen lässt. Wenn das Buch und die Serie (auf Netflix) auch eine krasse Fiktion sind – man erkennt doch ein Reihe von erschreckenden Parallelen zu den politischen Entwicklungen der letzten Jahre. Populisten nutzen überall irrationale Ängste der Menschen für ihre Zwecke und die Demokratie erodiert in einer Gesellschaft, die immer weiter auseinander driftet und schon gar keine gemeinsame Faktenbasis mehr anerkennt, auf der ein politischer Diskurs geführt werden könnte.
Es ist deshalb für alle, denen Demokratie und Menschenrechte wichtig sind, auch wichtig, sich mit dem Thema LGBT* Rechte in Deutschland und global zu beschäftigen und sich weiter für eine volle soziale und rechtliche Gleichstellung und Akzeptanz einzusetzen. Und nicht nur für LGBT*: Auch am Umgang mit anderen Minderheiten ist der Zustand unserer Demokratie und freiheitlichen Ordnung ablesbar. Wenn wir weiter in Freiheit und Sicherheit leben wollen, müssten wir immer da aufstehen, wo die Menschenwürde verletzt wird. Der wichtigste und schönste Satz unserer Rechtsordnung steht in Art. 1 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Unser Autor Mark Butt ist Inhaber und Rechtsanwalt bei GSK STOCKMANN + KOLLEGEN Rechtsanwälte.
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