“Niemand setzt sich für uns ein, wenn wir es nicht fordern” – Swana von ALICE über die Aktion #GesichtZeigen

Kennst Du queere Anwält:innen und Jurist:innen? Auch heute noch trauen viele LGBTIQ+ Personen sich nicht, sich an ihrem Arbeitsplatz zu outen und ihre queere Identität offen zu zeigen. Das ist vor allem in konservativ geprägten Branchen ein Problem, wo nachweislich mehr queerfeindliche Diskriminierung zu finden ist, als in anderen Branchen. Um diesem Problem entgegenzuwirken, organisiert ALICE, das Karrierenetzwerk queerer Jurist:innen, jetzt schon 4 Jahre in Folge die Aktion #GesichtZeigen, die queere Jurist:innen sichtbar macht. Wir durften mit Swana Schuchmann, Project Lead von ALICE, über die Aktion sprechen. Im Interview erfahren wir von Swana mehr über die besonderen Schwierigkeiten des Queer-Seins im juristischen Arbeitsumfeld und über die wichtige Rolle der Sichtbarkeit.


„Warum ich mich an #GesichtZeigen beteilige? Weil Sichtbarkeit wichtig ist. Zu lange haben sich queere Menschen verstecken müssen."

- Sebastian Thiele, Referent

#GesichtZeigender

Hallo Swana! Was genau ist #GesichtZeigen und warum habt ihr diese Aktion ins Leben gerufen?


#GesichtZeigen ist eine jährliche Aktion, die am Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit (IDAHOBIT) stattfindet. Das Ziel ist es, LGBTIQ+ Jurist:innen als Vorbilder für die Community sichtbar zu machen und ein Zeichen für Offenheit und Diversität in der juristischen Branche zu setzen. Dabei zeigen sich LGBTIQ+-Anwält:innen, Notar:innen Legal Counsels u.v.m. #outandproud: Ihre Gesichter und Profile inspirieren, offen und stolz am juristischen Arbeitsplatz zu sein.


Die Aktion soll dem Mangel an sichtbaren queeren Vorbildern und Repräsentation in der Branche entgegenwirken und überdies queere Personen ermutigen, eine Karriere in der Rechtsbranche anzustreben. Denn: Nur wenn diese Option via Role Models und Erfolgsgeschichten sichtbar ist, findet sie auch tatsächlich Berücksichtigung. Weiterführend ist das natürlich nur möglich, wenn auch in Kanzleien eine offene Kultur gelebt wird. Daher möchten wir mit der Aktion ebenso nachhaltig die LGBTIQ+-Inklusion in Kanzleien und Notariaten anregen, indem wir zeigen: Wir sind viele. Und wir möchten auch am Arbeitsplatz auch authentisch sein dürfen.

„#Gesichtzeigende sind nicht nur Inspirations- und Motivationsquellen, sondern bieten oft auch persönliche Anlaufstellen, um sich auszutauschen und gegenseitige ‘safer spaces’ zu schaffen.“

- Swana Schuchmann, Project Lead ALICE

Queere Menschen erfahren Diskriminierung immer noch überall im Alltag und auch in allen Berufsbranchen. Gibt es in der juristischen Branche besondere Herausforderungen für LGBTIQ+ Personen? Wie zeigen sich diese?


Wir wissen von einer Datenerhebung aus der EU, dass 44% der LGBTIQ+ Community berichten, in den vergangen 12 Monaten Diskriminierung im Alltag erlebt zu haben. Sprechen wir nur über den Arbeitsplatz, so sind es jede:r Dritte:r, wobei konservativer-geprägte Branchen - im Vergleich zu z.B. Gesundheits- und Sozialwesen - höhere Zahlen von Diskriminierungserfahrungen aufweisen. In der juristischen Branche scheint diese Zahl mit 37% tatsächlich noch etwas höher als der Durchschnitt in anderen Branchen.


Die größte Herausforderung ist noch immer der Mangel an visiblen Vorbildern und Repräsentation: Bisexuelle (78%), lesbische (55%) und schwule (42%) Jurist:innen gaben so in einer Studie der Law Society von 2019 an, dass sie sich unterrepräsentiert fühlen, keine sichtbaren Role Models in der Branche kennen, und auch das Gefühl haben, dass somit für ihre Identität und ihre Anliegen am Arbeitsort kein ‘Platz’ gegeben ist (für nicht-binäre, trans und inter-Personen sowie weitere queere Identitäten und Sexualitäten gab es keine genauen Zahlen).

Daran knüpft die Aktion #Gesichtzeigen an: #Gesichtzeigende sind nicht nur Inspirations- und Motivationsquellen, sondern bieten oft auch persönliche Anlaufstellen, um sich auszutauschen und gegenseitige ‘safer spaces’ zu schaffen.


Eine weitere spezifische Herausforderung ist das Outing gegenüber Rechtsbeistandsuchenden: Zwei Drittel der LGBTIQ+ Jurist:innen befürchten einerseits den Verlust von Mandant:innen, andererseits möchten sie sich auch nicht möglichen Mikro-Aggressionen oder Stigmatisierung vonseiten ihrer Klient:innen aussetzen. 

„Ich möchte ‘Gesicht zeigen', weil es mir zu meinen eigenen Bewerbungszeiten sehr geholfen hätte, erfolgreiche LGBTIQ+ Jurist:innen als Vorbilder zu kennen. Vor allem aber gibt es hier nichts zu ‘verstecken'. Denn Diversity ist eine Bereicherung für jedes juristische Arbeitsumfeld, gleich ob Kanzlei, Gericht, Behörde oder Unternehmen. Also lasst uns alle proud Gesicht zeigen!“

- Gunther A. Weiss, Partner

#GesichtZeigender

Was in der juristischen Branche, wie auch in anderen als ‘Muster’ auftaucht, ist, dass

a) sich mehr LGBTIQ+ Beschäftigte trauen, sich zu outen, wenn sie in Führungspositionen sind,

b) schwulen Männern ein Coming-Out leichter fällt, während lesbische Frauen und bisexuelle Personen eher Schwierigkeiten damit haben, und

c) inter*, nicht-binäre und trans Personen massiv unterrepräsentiert sind. Davon ist leider auch die Zusammenstellung von #Gesichtzeigenden ein Abbild.


Für die DACH-Region gibt es derzeit noch keine verlässlichen branchenspezifischen Zahlen zur LGBTIQ+ Community, daher kann die vorher zitierte Law Society Studie nur als Näherungswert betrachtet werden. Aber: Uns gibt die Studie auch einige positive Implikationen, z.B. berichteten über 90% der queeren Jurist:innen, dass sie sich durch Netzwerke und Straight Allies an ihrem juristischen Arbeitsplatz unterstützt fühlen. Diese Zahlen machen Mut, und bauen vielleicht auch bei einigen Leser:innen Ängste ab, sich authentisch und offen am Arbeitsplatz zu zeigen.

Die Aktion #GesichtZeigen findet dieses Jahr schon zum 4. Mal statt. Was hat sich seit 2020 für ALICE und für die Situation von queeren Jurist*innen verändert? 

Als die Aktion 2020 Premiere feierte, war es insbesondere in Pandemiezeiten und sozialer Isolation wichtig, Vorbilder aufzuzeigen, Netzwerken anzuregen, und zu vermitteln: „Du bist nicht allein!“.

Natürlich bleibt dies, wie auch die vorausgegangenen angebrachten Studien aufzeigen, weiterhin aktuell. Und klar hat sich die öffentliche Aufmerksamkeit um LGBTIQ+ Themen auch mit der Ernennung des Queer-Beauftragten Sven Lehmann 2022 sowie öffentlichen Debatten um z.B. TSG und Selbstbestimmungsgesetz, Ehe für Alle und Stiefkindadoption verstärkt.

Auch #Gesichtzeigen ist gewachsen und hat 2023 erstmals die 100er-Marke überschritten.

Doch auch wenn z.B. die Law Society Studie zeigt, dass über 80% der LGBTIQ+ Jurist:innen gegenüber Kolleg:innen, und rund 38% gegenüber Mandant:innen ‘out’ sind - ein deutlicher Anstieg im Vergleich zur Dekade davor - so zeigt sich dennoch, dass Hürden für ein vielfaltsbejahendes, LGBTIQ+ willkommenes juristisches Umfeld weiterhin bestehen, und auch organisationell noch viel getan werden muss, um eine wahrhaft inklusive Kanzleikultur - und ferner gesellschaftliche Offenheit - für LGBTIQ+ Personen zu schaffen.

Es brauchte etwa bis Mitte 20 bei mir, um festzustellen: Oh, man kann Juristin UND cool UND lesbisch sein! Diese Erkenntnis hatte ich spannenden Frauen in meinem Umfeld zu verdanken, die für mich zu Role Models und Verbündete wurden.”

- Tatjana Meyer, Juristin / Pressereferentin

#GesichtZeigende

Rein statistisch gesehen müsste es tausende queere Jurist:innen in Deutschland geben, dennoch finden sich im Vergleich dazu nur wenige Vorbilder wie bei #GesichtZeigen. Was ist hier der Hintergrund? Und wie geht ihr bei ALICE mit dieser Herausforderung um?

Laut einer NALP (National Association for Law Placement, Nordamerika) Erhebung zur Repräsentation von LGBTIQ+ Anwält:innen wurde zwar ein stetiger Wachstum des LGBTIQ+ Anteils in der Branche festgestellt, mit 2.99% liegt der Anteil aber deutlich unter den Schätzungen des allgemeinen LGBTIQ+ Anteils der Gesamtbevölkerung. Zwar sind die Zahlen wenig aussagekräftig, da sie a) in Nordamerika erhoben wurden, und daher für Deutschland erstmal wenig generalisiert werden können, und b) da eine offene Angabe gegenüber NALP keineswegs auf tatsächliche Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung schließen lässt (die ‘Dunkelziffer’ von nicht-geouteten LGBTIQ+ Jurist:innen kann hoch sein).


Dennoch schätzen wir, dass wir weniger als 1% der in der juristischen Branche tätigen LGBTIQ+ Personen mit #Gesichtzeigen erreichen. Das zeigt auch die noch bestehenden Bedenken tätiger Jurist:innen, öffentlich ‘out’ zu sein, verdeutlicht aber auch, wie wenig präsent das Thema in der juristischen Branche noch ist.

Wir sehen das so: Wenn wir mit der Aktion auch nur einem:einer Jurastudierenden, Anwält:in, Richter:in, Legal Counsel, Notar:in Mut oder Jurist:in machen können und positive Role Models aufzeigen, haben wir unser Ziel erreicht. Langfristig zählt jede einzelne Person: Denn wir alle tragen mit unserer Sichtbarkeit dazu bei, Jurist:innen am Arbeitsplatz zu ermöglichen, in ihrer vollen Komplexität und Diversität ihrer Persönlichkeit wahr - und angenommen zu werden.

Was möchtest du gerne queeren Jurist*innen, geoutet oder nicht, mit auf den Weg geben?

Dass Ihr großartig seid, so, wie Ihr seid. Und dass Ihr ein Recht habt, Euch in allen Regenbogenfarben Eurer Identität auch am Arbeitsplatz auszuleben.

  • Wenn Ihr Euch unsicher fühlt, sucht Euch Mentor:innen über Netzwerke, tauscht Euch in ‘safer spaces’ aus. ALICE kann hier ein erster Anlaufpunkt sein, ebenso wie queere Vereinigungen an Eurer Uni oder Institution.
  • Wählt den Zeitpunkt für Euer Outing, der für Euch richtig ist.
  • In jedem Fall: Passt auf Euch auf, seid stolz, und stärkt Euch gegenseitig.
  • Und wenn Ihr könnt: Seid das #outandproud Role Model, das Ihr euch selbst im Studium und zu Beginn Eurer Karriere gewünscht habt.

„Niemand setzt sich für uns ein, wenn wir es nicht fordern.“

- Swana Schuchmann

Warum sollten LGBTIQ+ Jurist:innen und grundsätzlich queere Menschen in der Arbeitswelt ihr #GesichtZeigen?

So schmerzhaft es manchmal ist, aber: niemand setzt sich für uns ein, wenn wir es nicht fordern. Wie Tijen Onaran es so treffend formuliert: “Nur wer sichtbar ist, findet auch statt”. Wenn wir ein inklusives Umfeld für uns und nachkommende Generationen schaffen wollen, wenn unsere Stimmen und Anliegen gehört werden sollen, müssen wir visibel sein. Und das beständig.

Event-Tipp: ALICE wird auch auf der LGBTIQ+ Job- und Karrieremesse STICKS & STONES am 1. Juli sein.

Kommt vorbei. Die Tickets sind kostenlos:

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