Aljosha Muttardi, © Studio Bummens, Foto: Pauline Bossdorf
Im Interview mit Proudr haben wir mit Aljosha über sein eigenes Coming-Out und den Umgang mit seiner Sexualität im Job gesprochen. Darin spricht er über seine Erfahrungen als junger queerer Arzt, die Anpassung an die „gesellschaftliche Norm” und darüber, was er sich gerne für sein Coming-Out gewünscht hätte.
Aljosha, du hast sieben Jahre lang als Facharzt für Anästhesie in einem Hamburger Krankenhaus gearbeitet. Wie war für dich der Einstieg in dein Arbeitsumfeld? Bist du sofort offen mit deiner Sexualität umgegangen?
Der Einstieg war schwer. Etwas, woran ich bis heute sehr stark leide, aber auch arbeite, sind meine Imposter Gedanken. Das bedeutet so viel wie Hochstapler Gedanken und äußert sich so, dass man bei Erfolgen jeglicher Art davon ausgeht, dass sie nichts mit den eigenen Fähigkeiten zu tun haben, sondern Glück oder Zufall waren. Man lebt quasi mit der Angst, als Hochstapler:in aufzufliegen, und genau das Gefühl hatte ich sogar bis kurz nach meinem Facharzt im Krankenhaus. Es war und ist bis heute ein sehr heteronormatives, hierarchisches Arbeitsumfeld. Entsprechend habe ich mich damals schwer getan, offen über meine sexuelle Orientierung zu sprechen. An sich geht es ja auch niemanden etwas an. Man lebt aber die ganze Zeit mit dem Gedanken, bald aufzufliegen bzw. sein Kollegium anzulügen, und das ist belastend. Stellenweise habe ich sogar gelogen, weil ich mich einfach nicht bereit gefühlt habe, mit damals 26 Jahren bei der Arbeit über meine sexuelle Orientierung zu sprechen. Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis ich mich dort geoutet habe. Ich war sehr erleichtert, als es dann endlich raus war. Gleichzeitig erlebt man dann natürlich auch unangenehme Situationen, wenn der Oberarzt einem plötzlich sagt: „Ja, wir hatten hier auch schon mal einen schwulen Assistenzarzt, der war ganz nett“. Ah cool, danke?! Wäre jetzt ohnehin meine nächste Frage gewesen…NICHT! (lacht)
„Jedes Coming-Out ist anders und ganz individuell,
genau wie jede Lebensrealität
anders und individuell ist!“
Die Arbeitssituation im Krankenhaus unterscheidet sich natürlich stark von der Arbeitssituation bei zum Beispiel einem Bürojob. Wie hat dein Arbeitsumfeld dein Coming-Out und den Umgang mit deiner Sexualität beeinflusst?
Mein eigentliches Coming-Out hatte ich ja bereits zuvor bei Familie und Freund:innen. Dennoch hat mein Arbeitsumfeld natürlich Einfluss auf die Art und Weise, wie selbstbewusst man mit sich und den eigenen Problemen umgeht. Dahingehend würde ich schon sagen, dass mein Arbeitsumfeld es mir schwerer gemacht hat, offen mit meiner Sexualität umzugehen, weil ich mich einfach sehr alleine gefühlt habe. Hinzu kommt im OP ein sehr stark toxisch männlich geprägtes Umfeld, was es nicht leichter macht und einem ständig das Gefühl gibt, sich beweisen zu müssen. Man fühlt sich nie 100 Prozent frei in seiner Identität. Da spreche ich jetzt aber natürlich nur für mich! Jedes Coming-Out ist anders und ganz individuell, genau wie jede Lebensrealität anders und individuell ist! Hätte ich mehr offene/sichtbare queere Menschen in meinem Arbeitsumfeld gehabt, wäre es mit Sicherheit anders gelaufen.
Aljosha Muttardi, © Studio Bummens, Foto: Pauline Bossdorf
„Hätte ich ein Umfeld gehabt, was mir diskriminierungsfrei erlaubt hätte, mich zu entfalten, wer wäre ich dann heute? “
Als Arzt hattest du sowohl mit vielen Kolleg:innen als auch mit vielen verschieden Patient:innen zu tun. War deine Sexualität ein Thema in deinem Berufsalltag?
Ich würde sagen nein. Das liegt vor allem daran, dass ich mein Leben lang gelernt habe, mich möglichst heteronormativ angepasst zu „präsentieren“. Das hört sich jetzt nach einem bewussten Prozess an, ist es aber nicht. Ich denke, viele Menschen machen das unbewusst, um sich zu schützen. Je mehr wir uns einem bestimmten Bild der „gesellschaftlichen Norm“ anpassen, desto weniger weichen wir von dieser ab und desto geringer erscheint die Wahrscheinlichkeit für sein Aussehen/Verhalten etc. diskriminiert zu werden. So habe ich es geschafft, mich relativ heterosexuell wirkend zu präsentieren, und entsprechend wenig Kommentare/Gegenwind erfahren. Die Frage, die ich mir aber oft stelle, ist: Wer bin ich eigentlich? Bin ich ein Produkt meiner Unsicherheiten? In gewisser Weise sind wir das wahrscheinlich alle (in unterschiedlichem Ausmaß), aber man kommt schon ins Grübeln: Hätte ich ein Umfeld gehabt, was mir diskriminierungsfrei erlaubt hätte, mich zu entfalten, wer wäre ich dann heute?
Aljosha Muttardi, © Studio Bummens, Foto: Pauline Bossdorf
Gab es während der Arbeit besondere negative oder positive Erfahrungen und Situationen in Zusammenhang mit deiner Sexualität, die dir im Kopf geblieben sind?
Nur wenige. Es gab zwei, drei Situationen, in denen schwulenfeindliche Witze gemacht wurden, das Wort „schwul“ als Beleidigung benutzt wurde. Oder in der mein Oberarzt versucht hat, nett zu sein und Geschichten erzählt hat, in denen schwule Ex-Kollegen vorkommen, einfach nur um zu erzählen, dass es noch andere wie mich gab. Unangenehm, weil es einen selbst und die Unsicherheiten sehr ins Zentrum rückt. Am Ende wollen wir alle nur ganz normal behandelt werden.
Du hast in Interviews bereits über dein Coming-Out bei deinen Eltern gesprochen und darüber, dass es sehr schwer war und alles andere als schön. Was hat das mit dir gemacht und wie hat dich das in deinem Verhalten in der Zukunft beeinflusst?
Ich glaube nicht, dass es nur mein Coming-Out war. Ich denke, vor allem die Jahre davor, die voller Selbsthass und dem Wunsch, einfach normal zu sein, waren, haben ihre Narben hinterlassen. Bei meinen Eltern hat es dazu geführt, dass sie jetzt endlich ihren echten Sohn haben und somit ist unser Verhältnis viel ehrlicher und schöner geworden.
Ich glaube, viele meiner Unsicherheiten und Selbstzweifel resultieren aus dem Urgedanken, dass ich der Fehler im System bin, dass ich falsch bin und einfach nur normal sein möchte. Wenn man sowas von klein auf denkt, dann hinterlässt das Narben!
„Ich wünschte, ich hätte früher gelernt,
mich zu lieben.“
Was hättest du in Bezug zu deiner Sexualität und deinem Coming-Out gerne schon früher gewusst?
Dass es OKAY ist. Dass ich nicht krank bin, dass ich nicht falsch bin, dass das, was ich fühle, keine krankhafte Anomalie ist, die es zu bekämpfen gilt. Sondern, dass es einfach ein Teil von mir ist. Ich hätte mir gewünscht, dass es früher Sichtbarkeit gegeben hätte. Menschen, die mir genau das mit ihrer bloßen Existenz vermitteln. Ich wünschte, ich hätte früher gelernt, mich zu lieben.
Aljosha Muttardi, © Studio Bummens, Foto: Pauline Bossdorf
Was für Tipps kannst du anderen Queers mitgeben, die sich auf der Arbeit outen möchten?
Macht es nur, wenn ihr es möchtet und wenn ihr euch sicher fühlt. Ihr allein bestimmt den Zeitpunkt und das Tempo!
Wenn es euch hilft, macht es vielleicht vorher bei einer:m eurer liebsten Kolleg:innen alleine oder sogar privat.
Seid euch einfach bewusst, dass ihr niemandem etwas schuldig seid. Ihr tut das für euch allein. Und wenn ihr euch nicht bereit fühlt oder es nicht möchtet, macht es nicht!
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