„Entscheidend wird sein, wie diese große schweigende Mehrheit der Bevölkerung sich in den Diskurs einbringt“ – Politik und Identität: Tessa Ganserer über den Kampf und die Erfolge des Selbstbestimmungsgesetzes

In einem historischen Schritt hat das Bundeskabinett das Selbstbestimmungsgesetz auf den Weg gebracht, das in Deutschland die Möglichkeit bieten soll, den Geschlechtseintrag und den Vornamen eigenständig festzulegen oder zu ändern. In einem exklusiven Interview mit Tessa Ganserer, Abgeordnete des Bundestages, das in Kooperation mit unserem Schwesterprojekt ALICE entstanden ist, sprachen wir bei Proudr über die aktuellen Herausforderungen dieses Gesetzes. Als erste trans* Politikerin im Bundestag, ist sie eine einflussreiche Stimme für die Rechte von trans Personen in Deutschland. Ihre politischen Schwerpunkte umfassen Geschlechtervielfalt, LGBTIQ+-Rechte, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit. Erfahre, warum Sichtbarkeit in dieser Zeit so entscheidend ist und wie sich die Rechtslage für transgeschlechtliche Menschen in Deutschland mit diesen wegweisenden Gesetzesänderungen verändert.

Tessa Ganserer, © Bündnis 90/Die Grünen

Tessa Ganserer wird am 22. September auf dem ALICE-Jurist:innensummit als Speakerin über das Selbstbestimmungsgesetz sprechen.

Im Auftakt dazu durften unsere Proudr Redakteurin Mona sowie ALICE Project Lead Aleksej mit ihr sprechen. Das Gespräch fand am 24. August statt - einen Tag nachdem die Bundesregierung einen Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz beschlossen hat. Das Gesetz soll im November 2024 in Kraft treten. Doch bis dahin kann sich noch viel verändern.

Durch dieses Interview geben wir euch einen tieferen Einblick in die Historie und Entwicklung des Selbstbestimmungsgesetzes sowie die rechtliche Lage und Zukunft von LGBTIQ+ Personen in Deutschland.

„Ich finde generell sollten Politiker:innen Menschen Mut machen oder Mut geben, statt ihnen Angst zu machen“

Mona: Hey Tessa! Toll, dass du hier bist für dieses Interview zur Vorbereitung auf den ALICE Summit. Ich kann mir vorstellen, dass gerade jetzt viel Spannung bei euch im Büro herrscht, da zum Zeitpunkt unseres Gesprächs gestern von der Bundesregierung das Selbstbestimmungsgesetz verabschiedet wurde.


Tessa Ganserer: Ich bin ganz tiefenentspannt.


Mona: Schön, dann legen wir direkt los!

Du bist als erste offene transgeschlechtliche deutsche Abgeordnete insgesamt und eine der ersten beiden trans Bundestagsabgeordneten ein sehr sichtbares Vorbild für die Community, und wahrscheinlich würden viele Menschen sagen, eine Vorreiterin für Diversiät und Gleichstellung im Bezug auf LGBTIQ+. Wie ist das für dich?


Tessa: Ich weiß nicht, ob ich so das große Vorbild bin. Ich persönlich neige nicht dazu, Menschen zu idealisieren oder zu idolisieren. Ich weiß aber, aus unzähligen Zuschriften von so vielen Menschen, die mir in den ganzen letzten Jahren immer wieder geschrieben haben - es kommen immer wieder Neue dazu -, die mir sehr persönliche Nachrichten schreiben und die mir deutlich machen, dass ich sie inspiriere, aber auch, dass ich ihnen Mut gebe. Wenn das wirklich so ist, und ganz offensichtlich ist es der Fall, dann ist das für mich der schönste Lohn, den man für das Abgeordnetenmandat bekommen kann.


Ich finde generell sollten Politiker:innen Menschen Mut machen oder Mut geben, statt ihnen Angst zu machen. Und ja, das ist natürlich für mich auch eine große persönliche Genugtuung. Aber ob ich jetzt das große Vorbild bin oder Role Model, das sollen die Menschen selber entscheiden. Das möchte ich mir selbst nicht anmaßen.


„Es gab einfach für mich keine Sichtbarkeit von transgeschlechtlichen Menschen, weder in der öffentlichen Berichterstattung, noch in der Fiktion, in Film und Fernsehen [...]“

Mona: Ich glaube dir, dass es bestimmt immer schwer fällt, sich das selbst zuzuschreiben. Doch ich habe das Gefühl, dass es vielen Personen einiges bedeutet, dich in der Politik zu sehen.


Tessa: Natürlich ist Sichtbarkeit wahnsinnig wichtig. Ich bin 1977 geboren im Bayerischen Wald in einem wahnsinnig kleinem Dorf und in den 80er Jahren groß geworden. Mir haben buchstäblich die Worte gefehlt, um überhaupt beschreiben zu können, was ich für mich erlebe. Und wenn, dann hätte ich niemanden gehabt, mit dem ich gesprochen hätte. Es gab einfach für mich keine Sichtbarkeit von transgeschlechtlichen Menschen, weder in der öffentlichen Berichterstattung, noch in der Fiktion, in Film und Fernsehen, wo ich mich hätte wieder erkennen können. Deswegen weiß ich, wie wichtig Sichtbarkeit ist. Und das natürlich möglichst breit. Nicht nur in der Politik, nicht nur bei Germany’s Next Top Model, sondern es ist genauso wichtig, Sichtbarkeit auch in der Fiktion zu sehen, und zwar in verschiedensten Rollen und als etwas völlig Normales, als normaler Teil dieser Gesellschaft, damit Menschen sich identifizieren können. Die meisten Menschen wären niemals Topmodel, ganz viele wären nicht Bundestagsabgeordnete. Deswegen glaube ich, ist das auch wichtig.


In der Fiktion wurde über Jahrzehnte lang Transgeschlechtlichkeit immer in fürchterlichen Narrativen gezeichnet. Entweder wir wurden ganz schnell das tragische Mordopfer oder sind ganz traurige, gescheiterte Seelen, die im Rotlichtmilieu enden. Wenn wir nicht ermordet wurden, dann wurden wir meistens als Psychopath:innen dargestellt. Wenn man irgendwo Transgeschlechtlichkeit als etwas Normales gesehen hat, dann waren es meistens trans-weibliche Personen, die extrem übersexualisiert dargestellt wurden. Mit dem Ergebnis, dass Männer, die sich in diese Menschen verliebt haben, doch regelrecht mit körperlichen Erbrechen reagiert haben, wenn sie von dieser Transgeschlechtlichkeit erfahren haben. 


Schlimmstenfalls wurden transgeschlechtliche Menschen als Witzfiguren dargestellt. Es hat natürlich verheerende Auswirkungen auf die Identifikation von transgeschlechtlichen Menschen, wenn sie immer nur so dargestellt werden, weil damit eben auch Vorurteile und furchtbare Narrative geprägt wurden. Darunter leiden transgeschlechtliche Menschen auch heute noch in unserer Gesellschaft.

Foto: Delia Giandeini, Unsplash

„Dass [...] das Kabinett ein Selbstbestimmungsgesetz beschlossen hat, mit dem endlich das Grundrecht auf Persönlichkeitsrechte auch für transgeschlechtliche Menschen vollumfänglich gilt, ist ein wirklich historischer Moment in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.“


Mona: Auf dem ALICE Jurist:innensummit am 22. September wirst du über das Selbstbestimmungsgesetz sprechen. Du hast selbst öffentlich bekannt gegeben, dass du persönlich nicht bereit bist, die Personenstands- und Namensänderungen nach dem Verfahren des Transsexuellengesetzes (TSG) vornehmen zu lassen. Magst du uns die aktuell herrschende Gesetzeslage kurz darlegen?


Tessa: Ich würde gerne versuchen, es möglichst kurz zu fassen, aber ich glaube, es ist notwendig, ein bisschen in die Historie einzugehen. Bis in die 80er Jahre, bis das sogenannte Transsexuellengesetz in Deutschland verabschiedet wurde, hatten transgeschlechtliche Menschen überhaupt keine Möglichkeit, in ihrer Geschlechtlichkeit staatlich anerkannt zu werden. Und dieses Gesetz war kein Fortschritt einer liberalen Politik, keine mutige politische Entscheidung, sondern dieses Recht, amtliche Dokumente zu korrigieren, hatten transgeschlechtliche Menschen zuvor in jahrelangen Prozessen bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht erstreiten müssen. Aber dieses Gesetz war von Anfang an Unrecht. 


An diesem Gesetz kleben so unendlich viel Blut und Tränen, weil dieses Gesetz einen furchtbaren Geist schrecklicher dunkler deutscher Vergangenheit wieder atmet. Einen Geist, in dem der Staat bestimmt hat, welche Ehen annulliert werden müssen, welches Leben lebenswert ist und welches Leben sich fortpflanzen darf. Nach diesem Gesetz mussten bis 2007 transgeschlechtliche Menschen ihre Ehe scheiden, damit sie anerkannt wurden. Bis 2011 mussten transgeschlechtliche Menschen eine sehr unmenschliche Entscheidung treffen. Sie wurden gezwungen, sich zu entscheiden: entweder für die Möglichkeit, eigene leibliche Kinder zu zeugen oder für ein selbstbestimmtes Leben. Beides war bis 2011 nicht möglich. Erst 2011 hat das Bundesverfassungsgericht diese Zwangssterilisation für grundgesetzwidrig erklärt, weil diese Regelung ein unzulässiger Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist. Deswegen finde ich es einfach notwendig, diese Historie deutlich zu machen, weil es kaum eine Gruppe gab, die so lange für ihre Rechte kämpfen musste.


Dass jetzt gestern, am 23. August das Kabinett ein Selbstbestimmungsgesetz beschlossen hat, mit dem endlich das Grundrecht auf Persönlichkeitsrechte auch für transgeschlechtliche Menschen vollumfänglich gilt, ist ein wirklich historischer Moment in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Aber auch das, muss man sagen, ist nicht vom Himmel gefallen.


Der Europarat hat in einer Resolution bereits 2015 die Mitgliedsstaaten dazu aufgerufen, dass sie einfache, schnelle und unbürokratische Verfahren zur amtlichen Personenstandsänderung einführen, die ohne Zwangsbegutachtung auskommen. Mittlerweile sind 11 europäische Länder dieser Aufforderung nachgekommen. Wir als Ampelkoalition holen das jetzt endlich für Deutschland nach. Denn nach wie vor ist es so, dass in der Bundesrepublik Deutschland transgeschlechtliche Menschen psychopathologisiert werden. Sie müssen einen Antrag bei Gericht stellen, einen aufwendigen und detaillierten Trans-Lebenslauf einem Richter vorlegen. Sie müssen in psychologischen Gutachten teilweise intimste und übergriffige Fragen beantworten, nur damit dieser Staat sie in ihrem Geschlecht anerkennt.

Dieses Verfahren ist demütigend und übergriffig. Ich setze mich mit meiner ganzen Kraft dafür ein, dass kein Mensch mehr solche demütigenden Verfahren durchlaufen muss und genau deswegen kann ich mich auch persönlich so einem demütigenden Verfahren nicht aussetzen.

Aleksej: Vielen Dank für die Darlegung der historischen Entwicklung, denn das muss man tatsächlich im Hinterkopf behalten, wenn man sich den aktuellen Gesetzentwurf zum Selbstbestimmungsgesetz näher anschaut.

Foto: Nikolas Gannon, Unsplash

"Über 90% der geouteten trans Jugendlichen machen genau diese Diskriminierungserfahrungen."

Aleksej: Für Erklärende im Alter von 14 bis 17 Jahren sieht § 3 des aktuellen Gesetzesentwurfs ein Zustimmungserfordernis der gesetzlichen Vertreter vor. Wie bewertest du die hier vorgenommene Abwägung zwischen dem Elternrecht und dem Persönlichkeitsrecht der erklärenden Personen im Grundgesetz?

Elternrecht

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.

(Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz)

Persönlichkeitsrecht

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit,

soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die

verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz)

Tessa: Hier ist in der Tat eine gewisse Güterabwägung zu treffen, aber ausschlaggebend muss das Persönlichkeitsrecht der betroffenen Jugendlichen sein. Wir wissen aus einer groß angelegten Studie des Deutschen Jugendinstitutes viel über transgeschlechtliche Jugendliche. Das durchschnittliche Coming-out Alter liegt zwischen 17 und 19 Jahren. Die allermeisten Jugendlichen, die befragt wurden, weit über zwei Drittel, haben aber angegeben, dass sie mehr oder weniger schon ihr ganzes Leben, im Kindergarten oder in der Grundschule, spätestens zum Zeitpunkt der Pubertät, sehr genau über ihre Transgeschlechtlichkeit Bescheid wussten.


Sie haben sich damit über Jahre, teilweise über Jahrzehnte über ihre ganze Kindheit und Jugendzeit gequält und sich nicht geoutet. Nicht geoutet aus Angst, Ausgrenzung und Benachteiligung zu erfahren, im Elternhaus nicht unterstützt zu werden, in der Schule gehänselt, gemobbt und verspottet zu werden und später bei einer Bewerbung auf einen Arbeitsplatz oder auf einer weiterführenden Schule noch mehr Benachteiligungen zu erfahren. Und das Schlimme ist, genau das, wovor sich trans Jugendliche fürchten, vor ihrem Coming Out, genau das erfahren sie - auch heute noch. Über 90% der geouteten trans Jugendlichen machen genau diese

Diskriminierungserfahrungen.

Was sagt uns diese Studie? Jugendliche machen das nicht aus Jux und Dollerei. Das ist keine Freizeitbeschäftigung, das ist kein Hype. Das ist kein Zuckerschlecken, das ist keine rosa Zuckerwatte, sondern die trans Jugendlichen haben sich sehr intensiv reflektiert und wissen sehr genau um ihre Transgeschlechtlichkeit Bescheid. Gleichzeitig sind aber Jugendliche in dem Alter zwischen 14 und 17, auch wenn sie schon sehr reflektiert sind, was ihre Geschlechtlichkeit anbelangt, der sensibelste Teil, der Teil der Bevölkerung. Die, die am wenigsten ihre eigenen Rechte vertreten können. Aber in diesem Alter müssen sich nahezu alle Jugendlichen entweder auf eine weiterführende Schule bewerben oder um einen Ausbildungsplatz. Und hier führt eine Abweichung der eigenen Geschlechtlichkeit mit dem Namen auf dem Zeugnis zu massiven Diskriminierungserfahrungen und Benachteiligungen.


Mit diesem Wissen, dass wir auch Studien haben über die Diskriminierungserfahrung und die Reflektiertheit von Jugendlichen, die sich outen, müssen wir dem Persönlichkeitsrecht der Jugendlichen das größere Gewicht beimessen. Deswegen vertreten wir, meine Fraktion, die Überzeugung, dass ab 14 Jugendliche selbst das Recht haben müssen, auch ohne Zustimmung der Eltern ihre amtlichen Dokumente richtig stellen zu können. Dafür werde ich mich auch im Gesetzgebungsverfahren weiter einsetzen.

„Ich finde, der öffentliche Diskurs gerät zunehmend in eine Schieflage, sodass wir nur noch darüber spekulieren, für was dieses Gesetz von Cisgeschlechtlichen, meistens Männern, missbraucht werden könnte.“

Aleksej: Beim § 4 des Gesetzesentwurfs ist vorgesehen, dass eine Anmeldung stattfindet - drei Monate vor Abgabe der Erklärung über die Änderung des Geschlechtseintrags beim Standesamt. Was ist deine Einschätzung zum Sinn und Zweck dieser Voraussetzungen?


Tessa: Offensichtlich haben in den Gesetzesentwurf Befürchtungen Eingang gefunden. Ich finde, der öffentliche Diskurs gerät zunehmend in eine Schieflage, sodass wir nur noch darüber spekulieren, für was dieses Gesetz von Cisgeschlechtlichen, meistens Männern, missbraucht werden könnte. Durch alle möglichen und unmöglichen Missbrauchsmöglichkeiten geraten Diskriminierungserfahrungen von transgeschlechtlichen Menschen völlig aus dem Blick. Hier braucht es einen dringenden Korrektiv des öffentlichen Diskurses.


Wenn wir jetzt das erste Land wären, würde ich sagen, natürlich müssen wir uns mit diesem möglichen Missbrauchsmöglichkeiten intensiv beschäftigen. Aber wir sind ja nicht die ersten. Wir sind, was die Grundrechte von transgeschlechtlichen Menschen anbelangt, europäisches Mittelfeld. Elf Länder haben bereits ein Selbstbestimmungsgesetz und in diesen Ländern wurden sehr ähnlich wie jetzt gerade in Deutschland diese Schreckgespenste an die Wand gemalt, die sich in keinem dieser europäischen Länder bewahrheitet hat.

Es ist absurd, zu glauben, dass Menschen mit dem Selbstbestimmungsgesetz irgendwie im großen Stil Schabernack betreiben. Es ist auch weltfremd, zu glauben, dass Menschen ihre Personenstandsänderung aus Jux und Dollerei machen. In der Regel beschäftigen sich Menschen vor ihrem Coming-out über Jahre, teilweise über ein halbes Jahrzehnt, damit.


Noch immer führt internalisierte latent gesellschaftlich vorhandene Transfeindlichkeit dazu, dass viele Menschen sich so schwer tun, sich selbst anzunehmen und dass so viele Menschen jahrelang Angst vor ihrem Coming-out haben. Das macht keiner übereilt und voreilig. Deswegen halte ich diese drei Monate Voranmeldefrist einfach für eine unnötige, unangemessene zusätzliche Hürde, die nach meiner Auffassung eben auch zu streichen gilt.


Genauso wie jetzt gerade noch vorgesehen ist, dass dieses Gesetz erst im November nächstes Jahr in Kraft treten sollte. Es gibt Menschen, die seit Jahrzehnten auf die uneingeschränkte Ausübung ihres Grundrechts der Persönlichkeitsrechte warten. Menschen, die schon im Rentenalter sind, die sich vor Jahrzehnten geoutet haben, denen wegen diesen grundgesetzwidrigen Regelungen im sogenannten Transsexuellengesetz der Zugang zu einer amtlichen Personenstandsänderung verwehrt wird. Menschen, die so unendlich viel Hoffnung auf diese Fortschrittskoalition haben, die schon viel zu lange auf diesen Gesetzentwurf warten und jetzt nochmal weiter vertröstet werden sollen. Das halte ich einfach für unzumutbar und auch hier werde ich mich für entsprechende Korrekturen im Gesetzgebungsverfahren einsetzen.

"Das heißt, wir brauchen in Zukunft, nicht nur für die Akzeptanz von transgeschlechtlichen Menschen, sondern für ein gutes gesellschaftliches Miteinander, mehr Demokratie fördernde Maßnahmen - mehr Aufklärungs- und Informationsangebote."

Aleksej: Der Gesetzentwurf zum Selbstbestimmungsgesetz nimmt Bezug auf die Änderung des Geschlechtseintrags und des Vornamens. In der Bundesrepublik Deutschland leben trans, inter und non-binäre Personen unterschiedlicher Herkunft, deren Nachnamen sich unter anderem auch an dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht der Person orientieren und daher auch gegendert werden. Vermisst du im Gesetzentwurf die Möglichkeit der Anpassung von Nachnamen oder bestehen andere Möglichkeiten, um auf rechtlichem Wege den Nachnamen gemeinsam mit dem Vornamen bei der Namensänderung anzugleichen?


Tessa: Ich denke, es gibt auch über das berechtigte Vorhaben der Ampelkoalition hinaus, die amtliche Personenstandsänderung grundgesetzkonform für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und non-binäre Menschen neu zu regeln, durchaus auch berechtigte Forderungen, das Namensrecht generell zu reformieren. Auch da gab es ja schon erste Vorstöße vom Justizministerium, die nicht nur im Bezug und im Kontext von Transgeschlechtlichkeit gerechtfertigt sind. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn wir hier auch weiterkommen. Ich glaube aber, dass man nicht immer alles, was möglich ist, gleich in einem Omnibus-Gesetz regeln kann oder soll, weil so oftmals einzelne Vorhaben überfrachtet werden.


Neben dem gerade angesprochenen Reformbedarf im Namensrecht haben wir auch immer noch einen Reformbedarf im Abstammungsrecht. Nicht nur transgeschlechtliche Eltern, sondern auch verheiratete lesbische Paare werden im deutschen Abstammungsrecht gegenüber heterosexuellen Eltern benachteiligt, weil lesbische Mütter immer noch ihre gemeinsamen Kinder adoptieren müssen. Auch das ist eine unzulässige Diskriminierung. Auch hier liegen mittlerweile Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe vor. Auch hier haben wir nochmal Reformbedarf. Ich glaube, auch wenn es wünschenswert ist, werden wir nicht alles in einem Entwurf packen können. Dennoch sehe ich den Anpassungsbedarf in diesen Bereichen und werde das auch weiter angehen. Der Rechtsanspruch auf medizinische Leistungen ist auch noch nicht geregelt. Aber nur weil es noch nicht im Selbstbestimmungsgesetz steht, heißt es nicht, dass das jetzt aus dem Blickwinkel geraten ist. Auch das steht noch weiter auf dem Arbeitsprogramm dieser Legislaturperiode.

Tessa Ganserer, © Bündnis 90/Die Grünen

"Für ein gutes gesellschaftliches Miteinander sind wir alle gefordert und hier muss der Staat eben in Vorleistung gehen."

Aleksej: Du hast schon zwei Aspekte angesprochen, die eben nicht im Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz enthalten sind. Gibt es noch weitere Aspekte, die bisher nicht berücksichtigt wurden, aber dort aufgenommen werden sollten?


Tessa: Im Selbstbestimmungsgesetz sind aus meiner Sicht noch ein paar weitere Punkte korrekturbedürftig. Wir haben hier in meinen Augen völlig ungerechtfertigte Ausnahmen beim Offenbarungsverbot Ich bin der Meinung, jeder Mensch, der über die Transgeschlechtlichkeit von jemand anderen Auskunft gibt oder die Informationen veröffentlicht mit der Absicht, der transgeschlechtlichen Person zu schaden, sollte dafür bestraft werden, so wie es jetzt vorgesehen ist. Und zwar unabhängig von der Familienzugehörigkeit der transgeschlechtlichen Person.


Nachbesserungsbedarf gibt es auch im Paragraphen zum Hausrecht (§ 6 SBGG). Es ist Intention dieses Gesetzes, an der bestehenden Rechtslage nichts zu ändern. Deswegen kann dieser Paragraph aus meiner Überzeugung getrost gestrichen werden. Ich bin zwar juristische Laiin, aber beschäftige mich so lange schon mit Gesetzgebung, dass ich weiß, dass es Humbug ist, dass ich zu allem verweise - zu sachfremden Gesetzen oder anderen Gesetzen, bei denen ich nichts ändern möchte. Es ist einfach eine unnötige Redundanz. 

Wir schreiben in ein Selbstbestimmungsgesetz auch nicht hinein: “Im Weiteren gilt auch das Bundesimmissionsschutzgesetz, das Waldgesetz und auch das Bundesnaturschutzgesetz unverändert.” Das machen wir auch nicht bei der Welle von anderen Gesetzen, dass wir hineinschreiben, was alles nicht gilt. 


Für gutes gesellschaftliches Miteinander gilt heute schon, egal wo sich Menschen nicht zu benehmen wissen, wo Menschen andere Gäste belästigen, fliegen sie rausV öllig egal, wie alt sie sind. Völlig egal, welches Geschlecht sie haben, welche Augenfarbe, egal ob jemand schwul oder lesbisch ist, ob er trans oder cis ist. Wer sich nicht an die Hausregeln hält, wer andere Menschen belästigt, fliegt heraus, das regelt das Hausrecht.

Gleichzeitig haben wir aber auch aus guten Gründen ein allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, sodass eben sowas nicht willkürlich geschehen kann. Ich kann nicht sagen, mir gefällt deine Nasenspitze nicht und ich finde deine Haarfarbe oder deine Augenfarben nicht schön, deswegen wirst du von mir nicht bedient. Das geht nicht. Vor diesen ungerechtfertigten Benachteiligungen schützt uns das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Das sollte sich mit dem Selbstbestimmungsgesetz auch nicht ändern.


Dieser Verweis mit den Hausrechtsparagraphen sorgt aber für Unruhe. Er sorgt für Missstimmung und ich denke er ist dazu geeignet, vor allem mit den ellenlangen Verweisen in der Gesetzesbegründung, die Vorurteile... die schrecklichen Narrative, die in Teilen dieser Gesellschaft gegenüber transgeschlechtlichen Menschen immer noch bestehen, dass diese weiter befeuert und gestärkt werden. Deswegen finde ich das einen sehr unglückseligen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs. Und es sollte zur Klarstellung, dass sich an der bestehenden Rechtslage nichts ändert, dass aber dieses Gesetz auch nicht dazu dienen darf, transgeschlechtliche Menschen zu benachteiligen, dieser Paragraf gestrichen werden.


Das sind Punkte, für die wir im Selbstbestimmungsgesetz noch auf Korrekturen und Nachbesserungen drängen werden. Auch das Thema trans Elternschaft. Darüber hinaus braucht es aber natürlich noch weitere Maßnahmen.

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Wir haben es einfach in unserer Gesellschaft mit verschiedenen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu tun. Queerfeindlichkeit, Transfeindlichkeit ist nur eine dieser Formen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bedeutet, dass Menschen aufgrund ihrer in sich geschlossenen, menschenverachtenden Denkweise andere Menschen abwerten, benachteiligten, ausgrenzen oder sogar Gewalt zufügen. Das sind Sachen, die wir mit keiner Rede im Deutschen Bundestag und auch mit keinem Gesetz aus der Welt schaffen können.Wir müssen für ein gutes gesellschaftliches Miteinander werben. Dafür muss die Politik Haltung zeigen. Dafür muss die Politik Akzeptanz vorleben. Sie muss dafür werben und sie einfordern. Das heißt, wir brauchen in Zukunft, nicht nur für die Akzeptanz von transgeschlechtlichen Menschen, sondern für ein gutes gesellschaftliches Miteinander, mehr Demokratie fördernde Maßnahmen - mehr Aufklärungs- und Informationsangebote.


Die Politik muss natürlich auch die finanziellen und personellen Ressourcen bereitstellen, damit diese wichtige gesellschaftliche Akzeptanzarbeit geleistet werden kann, weil es nicht die Aufgabe der Menschen ist, die marginalisiert werden, die benachteiligt werden, die ausgegrenzt werden, sich dagegen zu wehren. Für ein gutes gesellschaftliches Miteinander sind wir alle gefordert und hier muss der Staat eben in Vorleistung gehen. Dort, wo fehlende Akzeptanz zur Ausgrenzung, Diskriminierung, Benachteiligung oder sogar zu Gewalt führt, muss der Rechtsstaat sich schützend auf die Seite der Betroffenen stellen - ihnen nachgelagert nochmal zu ihrem Recht helfen und solche Hasskriminalität stärker verfolgen Auch da brauchen wir Maßnahmen.


Deswegen beabsichtigen wir auch eine Novelle des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, um noch effektiver vor Diskriminierung und Benachteiligung zu schützen. Es sind auch bereits Initiativen auf dem Weg und zum Teil schon umgesetzt worden, um Hasskriminalität effektiver zu bekämpfen. Die Akzeptanz und die Bekämpfung von Hasskriminalität, befürchte ich aber, sind Aufgaben, die nicht mit einer Legislaturperiode oder mit einem Gesetzesvorhaben abgeschlossen sind.


Ich ziehe da die Vergleiche zu anderen Formen der gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, zum Beispiel Gewalt gegenüber Frauen, sexualisierte Gewalt oder Rassismus. Auch das sind Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die in Teilen dieser Gesellschaft - es ist mir wichtig, immer noch von Teilen zu sprechen - herrschen. Ich bin der Überzeugung, dass der weit überwiegende Teil dieser Gesellschaft das Herz am richtigen Fleck hat. Aber es gibt Teile dieser Gesellschaft, bei denen das nicht der Fall ist. Auch bei diesen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Wir reden seit Jahrzehnten darüber, beschäftigen uns in der Politik damit. Natürlich muss die Politik immer wieder mal nachschauen und nachjustieren. Reicht es an politischen Maßnahmen nicht, müssen wir Gesetze novellieren und anpassen. Aber ich glaube, wir müssen uns bewusst sein, dass das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Das können wir nicht mit einer Novelle lösen. Dafür ist jede einzelne Person, jeder individuell gefordert, sich selbst an die Nase zu fassen: Wo habe ich persönlich noch Vorurteile? Menschen müssen, um sich persönlich selbst zu reflektieren, an ihren eigenen Vorurteilen, an ihren eigenen Ismen arbeiten, aber auch an ihren Verhaltensweisen. Jede gesellschaftlich relevante Gruppierung und Kraft muss sich überlegen: Was können wir als Organisation auch noch tun, um Vorurteile abzubauen, um Akzeptanz zu fördern?


"Es hängt maßgeblich davon ab, wie sehr sich Allies einbringen werden im gesellschaftlichen Diskurs."

Mona: Danke für die sehr ausführliche Antwort. Was mich jetzt noch brennend interessieren würde: Du hast schon ganz viel darüber gesprochen, was du gerne noch verändern möchtest. Du hast davon gesprochen, dass das Selbstbestimmungsgesetz erst im November nächsten Jahres in Kraft treten soll, was du auch nicht in Ordnung findest. Wie realistisch findest du es, dass es noch viele Änderungen geben wird und dass das Ganze vielleicht doch früher passieren könnte?


Tessa: Es ist schwierig, jetzt eine Prognose abzugeben. Es hängt maßgeblich davon ab, wie sehr sich Allies einbringen werden im gesellschaftlichen Diskurs. Ich bin von der Überzeugung, dass beim allergrößten Teil der Bevölkerung das Herz an der richtigen Stelle schlägt. Sie lassen sich auch von dem ganzen Hass, der von bestimmten Kräften jeden Tag in die Gesellschaft gespritzt wird, nicht vergiften.


Entscheidend wird sein, wie diese große schweigende Mehrheit der Bevölkerung sich in den Diskurs einbringt. Ich sehe, eine breite gesellschaftliche Mehrheit steht für die Grundrechte von transgeschlechtlichen Menschen ein. Es sind nicht nur die Trans-Verbände und Queer-Verbände. Die deutsche Psychotherapeutenkammer, die Bundesfrauenhauskoordinierung, die Frauen in der Evangelischen Kirche, sogar der Zentralrat der Katholiken, der Deutsche Gewerkschaftsbund und große deutsche namhafte Konzerne haben sich in den letzten Monaten deutlich für ein Selbstbestimmungsgesetz positioniert. Nur diese Stimmen werden in den Medien, im gesellschaftlichen Diskurs nicht wahrgenommen. Sie bekommen kein Mikro und keine Bühne. Es sind überraschenderweise meistens nur ein paar Einzelpersonen, die hier als Kritikerinnen herangetragen werden. Und ich finde, hier wird der gesellschaftliche Diskurs oder das Bild in der Wahrnehmung verzerrt. Hier entsteht der Eindruck, als wäre hier die Gesellschaft gespalten.


Tatsächlich sehe ich eine breite gesellschaftliche Unterstützung. Es wird entscheidend sein, dass das auch öffentlich wahrnehmbar ist, um die notwendigen und bereits genannten Korrekturen und Verbesserungen auch umsetzen zu können.

Wollt ihr mehr?

Mehr von Tessa Ganserer und mehr über das Selbstbestimmungsgesetz hört und seht ihr beim ALICE Summit am 22. September. Das Event findet digital statt und Tickets sind kostenlos. Meldet euch jetzt an!

ALICE LGBTIQ+ JURIST:INNEN SUMMIT

22. September, 10:30 – 17:00

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